Die Akte Sean „Diddy“ Combs (2024)

Trigger-Warnung: Im folgenden Beitrag werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffene geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.

Am 17. Mai beschloss der amerikanische TV-Sender CNN, seinem Millionenpublikum einmal zu zeigen, wie das eigentlich aussieht, was die Sängerin Cassandra „Cassie“ Ventura ihrem Ex-Freund Sean ‚Diddy‘ Combs in einer 35-seitigen Anklageschrift im November vergangenen Jahres vorgeworfen hatte – nämlich: Manipulation sowie psychische und physische Gewalt. Combs hatte immer gesagt, er sei „nie gewalttätig“ gewesen und ließ über seine Anwälte verlauten: „Miss Ventura hat eine Klage eingereicht, die mit unbegründeten und unverschämten Lügen gespickt ist und darauf abzielt, den Ruf von Herrn Combs zu schädigen und daran Geld zu verdienen.“ Combs Anwalt Ben Brafman sprach gar von „offensichtlicher Erpressung“.

Einigung per Vergleich

Die Zivilklage der 37-jährigen Ventura war vor allem durch ein neues Gesetz im Bundesstaat New York möglich geworden. Der „Adult Survivors Act“ gab Betroffenen sexueller Gewalt die Möglichkeit, in einem einjährigen Zeitfenster von November 2022 bis November 2023 auch in weiter zurückliegenden und eigentlich verjährten Fällen auf dem Zivilrechtsweg zu klagen. Sean Combs und Cassie Ventura einigten sich jedoch innerhalb von 24 Stunden nach Einreichen der Klage auf einen Vergleich, so dass der Fall nicht zum Prozess wurde. Ventura teilte in einer Erklärung mit, sie habe beschlossen, diese Angelegenheit gütlich zu lösen, „und zwar zu Bedingungen, die mir ein gewisses Maß an Kontrolle ermöglichen“. Auch Combs teilte mit: „Wir haben beschlossen, diese Angelegenheit gütlich zu lösen. Ich wünsche Cassie und ihrer Familie nur das Beste. In Liebe.“

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Ruhig wurde es danach für Combs aber mitnichten. Venturas Klage machte anderen Frauen Mut, ebenfalls gegen Combs vorzugehen. Klagen, die von Gewaltvorwürfen bis zur Vergewaltigung reichen (wie im Falle des Models Crystal McKinney, die Combs Ende Mai beschuldigte, sie im Jahr 2003 in seinem New Yorker Studio unter Drogeneinfluss gesetzt und dann zum Sex gezwungen zu haben). Combs Reaktion in den meisten Fällen: aggressives Abstreiten.

Sean Combs setzte auf aggressive Dementi – bis zum 17. März

Als im Dezember 2023 die damals bereits vierte Klage eingereicht wurde, postete Combs: „Genug ist genug. In den letzten Wochen habe ich stillschweigend zugesehen, wie Leute versucht haben, meinen Charakter zu zerstören und meinen Ruf und mein Vermächtnis zu beschädigen. Einzelne Personen, die auf das schnelle Geld aus sind, haben widerwärtige Anschuldigungen gegen mich erhoben. Lassen Sie mich ganz klar sagen: Ich habe nichts von den schrecklichen Dingen getan, die mir vorgeworfen werden. Ich werde für meinen Namen, meine Familie und für die Wahrheit kämpfen.“

Doch dann kam der 17. Mai 2024. CNN war ein Überwachungskamera-Video zugespielt worden, das am 5. März 2016 im Flur eines Hotels gefilmt wurde, in dem Sean Combs und Ventura übernachtet hatten. Was man dort zu sehen bekommt, wird exakt so in Venturas Klageschrift beschrieben. In der Klage heißt es auch, Combs habe dem InterContinental Hotel in Los Angeles 50.000 Dollar gezahlt, um die Aufnahmen der Überwachungskamera zu bekommen. Wie CNN das Video bekam, verriet der Sender nicht, aber er zeigte es in dieser Sendung:

@cbsmornings

A recently obtained video by CNN shows Sean „Diddy“ Combs allegedly beating his then-girlfriend Cassie Ventura in a Los Angeles hotel in 2016. The Los Angeles County District Attorney’s office finds the video “extremely disturbing,” but can’t file charges due to the statute of limitations. #seandiddycombs #news #video

♬ original sound – CBS Mornings

Das brutale, entlarvende Video und die Folgen

Wer wie wir das Video nichtsahnend spät abends beim TikTok-Scrollen sah und plötzlich zusammenzuckte, schaut seitdem mit einem gewissen Ekel auf Combs Dementi. Wie war das noch? „Ich habe nichts von den schrecklichen Dingen getan, die mir vorgeworfen werden. Ich werde für meinen Namen, meine Familie und für die Wahrheit kämpfen.“ Hier sah man nun die Wahrheit – und man sieht eine Form von Gewalt, die so gnadenlos und routiniert ausbricht, dass man durchaus denken kann, solche Szenen passierten bei ihm nicht zum ersten Mal.

Nach diesen Bildern und dem berechtigten Aufschrei war klar: Diesmal wäre Combs nicht damit durchgekommen, die Opfer verbal zu attackieren und Fehlverhalten zu dementieren. In einem gefilmten Instagramm-Posting inszeniert er sich als geläutertes Opfer, verweist auf schwere Zeiten und sagt: „Es ist so schwierig, über die dunkelsten Zeiten in deinem Leben nachzudenken, aber manchmal muss man das tun.“ Weiter heißt es: „Ich war damals angewidert, als ich es tat. Ich bin auch jetzt angewidert. Ich habe mir professionelle Hilfe gesucht. Ich habe eine Therapie gemacht, bin in die Reha gegangen. Ich musste Gott um seine Gnade und Barmherzigkeit bitten. Es tut mir so leid. Aber ich bin entschlossen, jeden Tag ein besserer Mensch zu werden. Ich bitte nicht um Vergebung. Es tut mir wirklich leid.“

Die Reaktionen auf beide Videos waren deutlich. Meredith Firetog, eine von Cassie Venturas Anwältinnen, sagte in einem Post auf X: „In seiner jüngsten Erklärung geht es Combs mehr um sich selbst als um die vielen Menschen, die er verletzt hat. Als Cassie und mehrere andere Frauen sich meldeten, leugnete er alles und behauptete, dass seine Opfer Kasse machen wollten. Dass er sich erst zu einer ‚Entschuldigung‘ genötigt sah, als seine wiederholten Leugnungen als falsch erwiesen wurden, zeigt seine erbärmliche Verzweiflung. Niemand wird sich von seinen heuchlerischen Worten beeinflussen lassen.“

Statement of Meredith Firetog, Partner at Wigdor LLP, in response to Sean Combs’ video post:

“Combs’ most recent statement is more about himself than the many people he has hurt. When Cassie and multiple other women came forward, he denied everything and suggested that his…

— Wigdor LLP (@WigdorLaw) May 19, 2024

Cassie Ventura selbst postete ein Statement auf Instagram, in dem sie vor allem ihre Dankbarkeit ausspricht für den Beistand, den sie zuletzt erfahren hatte. Außerdem sagt sie: „Ich bitte nur darum, dass ALLE ihr Herz dafür öffnen, zuerst den Opfern zu glauben. Es braucht viel Mut, die Wahrheit über eine Situation auszusprechen, bei der man selbst hilflos war.“

Aber auch aus Sean Combs Arbeitsumfeld gab es entsetzte Reaktionen. LaJoyce Brookshire, die zu der Zeit des Angriffs mit Sean Combs bei dessen Label und Firma „Bad Boy Entertainment“ arbeitete, sagte dem amerikanischen „Rolling Stone“ sie sei verstört darüber, „dass diese Art von Handlungen stattgefunden haben könnten … und dass Puffy mir am nächsten Tag mit gegenübertreten konnte, als sei nix gewesen. Das erschüttert mich zutiefst.“

Eine umfangreiche Recherche in der amerikanischen Musikpresse

Der amerikanische „Rolling Stone“ veröffentlichte Ende Mai dann eine große Recherche von Cheyenne Roundtree und Nancy Dillon, die noch einmal zusammenträgt, was sich Combs über die Jahre geleistet hat. Der Artikel „Bad Boy For Life: Sean Combs History of Violence“ hebt dabei besonders hervor, dass es schon immer Anzeichen gab, dass Sean Combs Verhalten im Grunde untragbar war. Aber Sean Combs war zugleich einer der mächtigsten Player der amerikanischen Musikwelt. Seine Partys galten als legendär und wurden gerne von namhaften Stars besucht. Seine Produzenten- und Songwriting-Credits erstrecken sich über hunderte Songs – davon einige sehr erfolgreiche – er galt als Tastemaker, machtvoller A&R und zehrte noch lange vom Ruf, mit „Bad Boy Recordings“ eines der wichtigsten Rap-Labels der 90er aufgebaut zu haben. Diese Macht nutzte er anscheinend oft aus – wie einige Klageschriften sehr deutlich machen.

Die „Rolling Stone“-Autorinnen rufen in ihrem Artikel zum Beispiel noch einmal das Jahr 2011 in Erinnerung, als Cassie Ventura Diddy verlassen wollte und eine Weile mit Kid Cudi liiert war. Combs tönte damals vor Ventura, er werde Cudis Auto in die Luft jagen. Was tatsächlich passiert sei, wie Cudi der „New York Times“ verriet.

Erste Vorfälle während der College-Zeit an der Howard University

Außerdem kommen in der Reportage ehemalige Kommilot:innen zu Wort, die mit Combs auf der Howard University waren. Dort etablierte sich auch sein Spitzname „Puff“, den er vor allem deshalb bekam, weil er eine kurze Zündschnur hatte und oft in Wutausbrüche verfiel. Combs organisierte im Rahmen seiner Uni-Zeit wilde Partys, die seinen Ruf als wichtigen Player im Nachtleben begründeten. Aber es gibt bereits da gut dokumentierte Ausbrüche. Zum Beispiel habe Sean Combs seine damalige Freundin auf dem College-Gelände verprügelt, wie einige Quellen dem „Rolling Stone“ mit der Bitte um Anonymität mitteilten. Eines Abends habe er vor dem Dorm-Room seiner Freundin gestanden und laut gebrüllt, sie solle rauskommen.

Als sie dieser „Bitte“ nachkam, sei folgendes passiert: „Er schrie und brüllte und benahm sich wie ein Vollidiot, bis sie die Treppe herunterkam“, erzählte eine Howard-Studentin, die Zeuge des angeblichen Angriffs war, dem Rolling Stone. Sie sagte, Combs habe etwas benutzt, das wie ein Gürtel aussah, um die junge Frau „am ganzen Körper zu schlagen“. Die Zeugin, die anonym bleiben wollte, sagte, Combs sei „superwütend“ gewesen und habe „aus vollem Halse geschrien“. Sie sagt, er habe ihr „den Hintern versohlt – so richtig den Hintern versohlt“. Die Zeugin sagte, die junge Frau sei eindeutig schockiert gewesen: „Sie hat versucht, sich ein bisschen zu wehren. Sie hat geweint. Und wir haben ihm gesagt: ‚Lass sie in Ruhe.‘ Wir haben für sie geschrien.“ Eine dritte Quelle erinnerte sich gegenüber dem Magazin ebenfalls an den angeblichen Übergriff – das vermeintliche Opfer selbst wollte jedoch nicht mit dem „Rolling Stone“ sprechen.

Als Reaktion auf das geleakte Video und die darauffolgende Berichterstattung verkündete die Howard University in der vergangenen Woche, dass man Sean Combs die Ehrendoktorwürde aberkenne, die er 2014 bekommen hatte. Auch eine Schenkung von eine Million Dollar, die Combs seiner ehemaligen Uni 2016 gegeben hatte, wolle man zurückzahlen.

„Freak-offs“ und Vorfürfe der Prostituion und des Menschenhandels

Sean Combs Sexualverhalten wirkt nach dem Lesen des Artikels noch verstörender. Wie bereits erwähnt haben inzwischen fünf weitere Frauen neben Ventura Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs oder der Vergewaltigung erhoben. Zwei dieser fünf Klageschriften erwähnen, dass Combs oft den Sex gefilmt und ohne Erlaubnis seiner Partnerin mit anderen geteilt habe. Auch ein Mann hat Klage erhoben: Der Produzent Rodney ‚Lil Rod‘ Jones wirft Sean Combs vor, dieser habe ihm immer wieder ungefragt an die Genitalien gefasst, und ihn dazu gezwungen vor Combs Augen Sex mit Prostituierten zu haben. Sean Combs dementiert all diese Vorwürfe.

In Cassie Venturas Klageschrift finden sich jedoch auch Beschreibungen solcher Szenen. Combs habe Ventura befohlen, sich mit Öl einzureiben, habe ihr Alkohol und Drogen aufgedrängt und sie dann gezwungen, mit männlichen Prostituierten Sex zu haben. Combs hätte sich dabei selbst befriedigt oder den Sex gefilmt. Er habe diese Aktionen „freak-offs“ genannt.

Schon 2004 erzählte Usher in einem „Rolling Stone“-Interview, wie es in Sean Combs Haus in New York zuginge. Usher hatte als junger Musiker und „Bad Boy“-Protegé in den Neunzigern dort eine Weile gewohnt. „Puff hat mich in eine ganz andere Welt eingeführt – vor allem in die des Sex. Es waren immer Mädchen da. Man öffnete eine Tür und sah jemanden, der es trieb, oder mehrere Leute in einem Raum, die eine Orgie feierten. Man wusste nie, was passieren würde.“

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Was von all den beschriebenen Szenen nun justiziabel ist – wenn es nicht gar verjährt ist – wird sich in den nächsten Monaten vor Gericht zeigen. Vorausgesetzt diese Klagen werden dort verhandelt und nicht abgewiesen oder per Vergleich aus der Welt geschafft. Parallel dazu läuft auch noch eine Ermittlung der Bundesstaatsanwaltschaft in New York, die gegen Sean Combs zu Menschenhandel, sexuellen Übergriffen, häuslicher Gewalt und organisierter Kriminalität ermittelt. Im Zuge der Ermittlungen durchsuchten Ende März dutzende schwerbewaffnete Beamte der Ermittlungsbehörde des amerikanischen Ministeriums für Heimatschutz (HSI) die Anwesen des Rappers und Musikproduzenten in Los Angeles und Miami.

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Will man seine Musik noch hören?

Warum wir all diesen Schmutz hier noch mal so ausführlich ausbreiten? Weil es wichtig ist zu wissen, dass es sich um sehr konkrete und bisweilen räudige Vorwürfe handelt. Und weil auch hier wieder deutlich wird, dass wichtige Männer im Musikbusiness anscheinend in einem System arbeiten, das Grenzüberschreitungen begünstigt und die Aufklärung solcher Vorfälle verdrängt oder behindert.

Niemand muss deshalb zwangsläufig aufhören, Sean Combs Musik zu hören, aber wenn man allein auf das Video und Combs Reaktion darauf schaut, fällt es einem schon schwer, zum Beispiel Musik zu streamen, an der Combs Geld verdienen würde, die er dann seinen aggressiv arbeitenden Anwälten geben könnte. Deshalb werden wie in naher Zukunft darauf verzichten, Songs wie „Mo Money, Mo Problems“ oder „Hypnotize“ von The Notorious B.I.G, „My Life“ von Mary J. Blige, „Love Like This“ von Faith Evans, „Think Of You“ von Usher und natürlich „I’ll Be Missing You“ von P. Diddy zu hören.

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